Die Märzausgabe der eXperimenta beschäftigt sich mit der japanischen Dichtkunst des Haiku.
Dichter:innen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland stellen ihre Haiku in dieser Ausgabe vor.
Die Kalligraphien stammen aus der Feder von Jürgen Fiege.
Die eXperimenta kann kostenlos hier abgerufen werden: www.experimenta.de
Jürgen Fiege
Manchmal sitze ich in einem Park und sehe Wörter von den Bäumen fallen. Am Boden entwickeln sie sich zu einem Gedicht – einem Haiku – erst im Lesen erlebe ich sein Erwachen. Meine Tuschespuren unterliegen nicht der strengen Normierung 5 – 7 – 6 Silben, aber sie fühlen eine Seelenverwandtschaft. Wie im Haiku schreibt mein Pinsel Erlebtes, wofür es keine Worte gibt, stellvertretend für meine Gefühle, Augenblickliches.
Meine Tuschspuren sind Ereignisse, sind Wirklichkeit, sind etwas Vorweggenommenes und wollen vom Betrachter vervollständigt werden.
Haikus vermittelen oft Erfahrungen aus der Natur. Wenn wir in die Natur schauen, blickt sie zurück. In Japan sind Darstellungen meist symbolisch benutzt. Symbole, die nicht die unseren sind. Ich benutze in meinen Arbeiten Symbole aus meiner europäischen Welt. Ich habe viel Respekt vor der japanischen Kultur. Ich möchte sie nicht kopieren.
Meine Tuschespuren wollen nicht über Natur schreiben, sondern darüber, was ich empfinde, wenn ich in der Natur lebe.
Mich fasziniert an Haikus die Möglichkeit mit drei Zeilen die Welt zu erklären, das Nichtgeschriebene in mir zu vervollständigen – ganz wahr, ganz klar, ganz hier, ganz offen. Meine Tuschespuren sind wie Haikus kurze kleine Ereignisse. Der Pinsel will das für mich Wesentliche sichtbar machen. Ein Betrachter kann mir beim Denken zuschauen und weiterdenken.
Susan Sontag schrieb „In Platons Höhle“ – „Fotografieren … heißt sich in eine bestimmte Beziehung zur Welt zu setzen – Miniaturen der Realität … anfertigen“.
Meine Tuschespuren erschaffen Miniaturen meiner Seele, meiner Gedanken, damit kommen sie der Idee von Haikus sehr nahe. Sie sind für mich ein Werkzeug die Welt verstehen zu lernen.
Ich verstehe mich als Schreiber und mein Pinsel hinterlässt eine schwarze Spur.